Hertha von Dechend hat
erstmals die Mythen aus aller Welt systematisch auf ihren astronomischen
Gehalt hin untersucht und mit ihrer Publikation "Die Mühle
des Hamlet Ein Essay über Mythos und das Gerüst der Zeit"
das Fundament zu einer mit historisch-kritischen Methoden arbeitenden
archaischen Kosmologie gelegt. Wer sie kannte, hatte das Gefühl:
hier brodelt ein Vulkan. Wer sich mit ihr unterhielt, merkte bald:
sie spricht nur von einem kleinen Teil ihrer immensen Zettelkästen.
Nun hat sie die Augen für immer geschlossen, ohne den zweiten
Band abzuschließen. Wer war diese Frau?
Geboren 1915 in Heidelberg, fand sie 1934 ohne Studienerlaubnis Unterschlupf
im Frankfurter Museum für Völkerkunde, das Leo Frobenius
bis zu seinem Tode 1938 leitete. Sie hatte ihre Ablehnung der Nazis
bereits so deutlich kundgetan, daß sie das Abiturszeugnis nur
mit Mühe erhielt Ihr vorgeschobenes Studienziel Archäologie
und Altphilologie bot vorerst keine Verdachtsmomente. Immatrikulieren
durfte sie sich erst nach Ableisten des - natürlich verhaßten
- Arbeitsdienstes. Ein wichtiges Kriterium ihrer Menschen- und Weltkenntnis
war der an Karl Kraus geschulte Sprachsinn. Nach Kriegsbeginn 1939
promovierte sie in aller Eile mit einer Arbeit über das Thema
"Die kultische und mythische Bedeutung des Schweins in Indonesien
und Ozeanien" und wurde in Paris stationiert.
Aber schon 1941 war sie wieder in Frankfurt. In Paris war es ihr eigentlich
sehr gut gegangen. Sie bekleidete eine Stelle im Rang eines Offiziers
und behauptete noch Anfang der sechziger Jahre, nie wieder so viel
Geld verdient zu haben. Obwohl sie kein Wort Französisch verstand,
nahm sie rasch Kontakt auf zu den Ethnologen im Musée de l'Homme,
mit denen sie sich nicht nur auf der wissenschaftlichen Ebene gut
verstand, sondern deren politische Haltung sie teilte. "Resistance"
nannte man das auf Französisch. Als ihre Freunde festgenommen
werden sollten, sagte sie ihnen Bescheid. Beim zweiten Mal fiel das
auf, und sie wurde zu ihrem Vorgesetzten bestellt. Nachdem dieser
sie angehört hatte, meinte er, er könne leider nichts weiter
für sie tun, als ihre Akte verschwinden zu lassen. Dechend hatte
die Telephonnummer des Musée de l'Homme bis an ihr Lebensende
im Kopf. Der lebensrettende Vorgesetzte hat selbst das Kriegsende
nicht erlebt. Die Zahlmeisterin ihrer Einheit, mit der sie sich angefreundet
hatte, folgte ihr bald nach Frankfurt und heiratete später einen
Ethnologen. Sie hatte Freunde dadurch ergötzt, daß sie
die Köpfe der Nazigrößen auf den Geldscheinen geschickt
so ausschnitt, daß sie, in einer Schlaufe hängend, aussahen,
als baumelten sie am Galgen. Auch ihr war in Paris der Boden unter
den Füßen zu heiß geworden.
In Frankfurt war Dechend
von 1943 an mit einer halben Assistentenstelle beteiligt an Gründung
und Aufbau des zunächst städtischen Instituts für Geschichte
der Naturwissenschaften (jetzt Johann Wolfgang Goethe-Universität).
Dieses Institut war für den Astronomen und Mathematiker Willy
Hartner (1905-1981) begründet worden, und es ist nicht zu hoch
gegriffen, wenn man Hertha von Dechend die Seele des Instituts nennt.
Ein beliebter Treffpunkt der jungen Leute des Frobenius-Instituts
war Jimmy's Bar, wo Wermut mit Soda, und Soda, und Soda..., das billigste
Getränk war. Die "Institutsmannschaft" bestand im Krieg
fast nur aus Frauen, aber bei Jimmy's Bar trafen sich auch Homosexuelle,
die damals genauso gefährdet waren wie Zigeuner und Behinderte,
und für die es bei einer Razzia lebensrettend war, sich an eine
junge Frau schmiegen zu können.
Von Haus aus nicht mit materiellen Gütern gesegnet, bot das Überleben
für Dechend oft Probleme. Ihr Großvater, Hermann von Dechend,
war der erste Reichsbankpräsident gewesen, ihr Vater Alfred,
ein promovierter Chemiker, verlor in der Wirtschaftskrise seine Arbeit,
trennte sich von der Familie, fand eine neue Frau, aber nie wieder
Arbeit. Die Freundschaft zur Großfamilie des Internisten Franz
Volhard, wo sie ein gern - und häufig - gesehener Gast war, hat
sie vermutlich vorm Verhungern bewahrt. Die Freundschaft dauerte bis
ans Lebensende.
Dechends Asche wurde im Volhardschen Familiengrab in Frankfurt beigesetzt.
Hartner war nach dem Krieg dank alter Beziehungen zu Harvard entscheidend
mit verantwortlich für die rasche Wiederaufnahme des Universitätsbetriebes.
Das bedeutete aber auch, daß er ständig unterwegs war.
Mit einiger Sicherheit konnte man ihn nur nach der Vorlesung um die
notwendigsten Unterschriften bitten. Die Beratung der Studenten, der
Aufbau der berühmten Bibliothek waren Dechends Leistung. Sie
konnte zuhören. Sie war enorm gebildet. Sie war bienenfleißig.
Um in eine höhere Gehaltsgruppe zu kommen, legte sie 1954 das
Bibliothekarsexamen ab.
Sie war auch auf anderen Gebieten tätig. Als der Chemiker Justus
von Liebig noch nicht von der Geschichtsschreibung entdeckt war, erschien
1953 "Justus von Liebig in eigenen Zeugnissen und solchen seiner
Zeitgenossen", 1963 noch in einer zweiten Auflage1. Im Mittelpunkt
dieser Anthologie stand der Briefwechsel mit dem Göttinger Chemiker
Friedrich Wöhler. 1973 und 1977 erschienen zwei kurze Aufsätze2
zu Themen archaischer Kosmologie. Für die Festschrift zum 50jährigen
Bestehen des Instituts3 hielt sie ihre "Erinnerungen an die Frühzeit
des Instituts" fest. Habilitiert wurde sie 1959 mit einer Arbeit
über das Thema "Der Mythos von der gebauten Welt als Ausdrucksform
archaischer Naturwissenschaft I und II". Ihre Habilitationsschrift
wurde ebensowenig gedruckt wie die Dissertation. Aber in ihren Zettelkästen
war nichts verloren gegangen.
Die große Wende kam, als 1958 Giorgio de Santillana bei einem
Symposium in Frankfurt auftauchte. Santillana hatte den Lehrstuhl
für Geschichte der Naturwissenschaften am MIT in Cambridge/MA
inne und begriff schnell, was Hertha von Dechend über die archaische
Kosmologie hervorsprudelte. Nachdem sie ihm 1959 ein Expose geschickt
hatte, kam es zu einer Phase intensiver Zusammenarbeit. Sie wurde
nach Amerika eingeladen, wo sie anfangs ein ganzes Jahr, später
jeweils ein Semester verbrachte. In den gemeinsamen Seminaren konnte
sie ihre Forschungsergebnisse stets auch mit interessierten Naturwissenschaftlern
diskutieren, die zur Weltelite gezählt wurden. Dort erhielt sie
Informationen über die moderne Anschauung von den sie interessierenden
astronomischen Sachverhalten, dort fand sie ihrerseits Anerkennung.
Ziel ihrer Forschungen war es, die astronomischen Themen in den Mythen
und ihre Terminologie zu erarbeiten. Dank Santillanas Sprachgenie
und Organisationstalent entstand "Die Mühle des Hamlet"
und erschien unter beider Namen erstmals 19694 auf Englisch, seit
1983 auf Italienisch und seit 1993 auf deutsch gedruckt.
Mit dem Bild von Hamlets Mühle gewinnen Dechend und Santillana
geschickt eine gebildete Leserschaft, denn jeder kennt Hamlet, nicht
aber seine Mühle. Man möchte also erfahren, was es mit dieser
auf sich hat. Sie kommt bei Shakespeare nicht vor, und auch dessen
mittelalterlicher Informant Saxo Grammaticus konnte schon nichts mehr
davon berichten. Dechends Zettelkästen enthielten unterschiedlich
alte Mythen, die sich wie die Häute einer Zwiebel überlagern.
Hamlet taucht anderswo als Amlodhi, Ambales, Kullervo, Kalevipoeg,
Kai Chosrau, Lucius Junius Brutus auf. Die Brücke zur Astronomie
führt den Leser zu einem neuen, rational zugänglichen Verständnis
der Mythen. Das im Titel versprochene "Gerüst der Zeit"
ist nicht die Zeit einer Eieruhr, sondern die Präzession und
das Wandern des Nordpols. Wir verlassen derzeit das Zeitalter der
Fische, das mit Jesu Geburt begonnen hatte, und treten in das Zeitalter
des Wassermanns ein, wie man vor ein paar Jahren aus dem Musical "Hair"
lernen konnte. Hamlet hatte einem früheren Zeitalter angehört,
dem des Widders. Damals hatte er die Mühle gedreht, die ein weltweit
verbreitetes Bild für den Gang der Zeit in der Präzession
war. Als Hamlets Zeitalter vorüber war, zerbrach die Mühle,
fiel ins Meer und bewirkte den Malstrom der skandinavischen Mythen.
Hamlets Zeitalter des Widders hatte begonnen, als Moses auf dem Berge
Sinai die Gesetzestafeln empfing, während sein Volk noch um das
Goldene Kalb (eigentlich Stier, Taurus) tanzte. Das davor liegende
Zeitalter der Zwillinge ist die "Nullzeit" der Mythologie.
Auf Hamlets Zeitalter des Widders folgte das Zeitalter der Fische.
Mit der Entschlüsselung der Fachsprache dieser archaischen Kosmologie
hat Dechend eine ungeahnte Dimension der Menschheitsgeschichte geöffnet.
Wie war es möglich, vor ca. 100 00 Jahren derartig langsame Himmelsveränderungen
zu beobachten? Das Buch "Hamlets Mühle" gibt auch dazu
Antworten.
In Deutschland half dem Werk übrigens ein Computer-Verlag zum
Durchbruch. Wenn man mit "Google" im Internet nach dem Namen
Hertha von Dechends sucht, erhält man mehr als 300 Treffer, die
von Rezensionen und Erwähnungen über Fernsehsendungen und
Quizveranstaltungen bis Leselisten und sogar Briefauszügen reichen.
Hertha von Dechends berufliche Karriere in Frankfurt verlief weniger
spektakulär. Zwar wurde sie, wie damals üblich, 6 Jahre
nach ihrer Habilitation zum apl. Professor ernannt, jedoch erst 1971,
neun Jahre vor Erreichen der Altersgrenze, zum ,,Professor auf Lebenszeit".
Dechends Unabhängigkeitsdrang, der zu so originellen wissenschaftlichen
Ergebnissen geführt hat, war ihr schon von weitem anzusehen resp.
zu hören. Der Widerspruchsgeist war von Kind an besonders ausgeprägt.
Seit der Nachkriegszeit fand er Nahrung in der Lektüre des "Spiegel".
In ihren jüngeren Jahren boten ihre Katzen und die Geige einen
Ausgleich. Die exzellente Beherrschung der Geige führte zu -ungeahnten
- Kontakten: sie hat Quartett gespielt, mit den Volhards, mit Hartner,
mit Adorno - mit Menschen also, die sonst wenig verbindet. Seit sie
nach Amerika fuhr, gab es keine Katzen mehr und auch kein Geigenspiel.
Wermut-Soda wurde durch Campari ersetzt, aber seit den achtziger Jahren
schmeckte ihr kein Alkohol mehr. Der viele Kaffee der jungen Jahre
wurde allmählich durch Tee, Caro, Kakao und oftmals durch schlichtes
heißes Wasser ersetzt. Sie war auch Krimispezialistin. Wann
sie dafür Zeit gehabt hat, weiß ich nicht, aber die Wände
ihres Schlafzimmers waren vollgestopft mit Krimis. Und Goethe, und
Gottfried Keller.... Geraucht hat sie Rothändle, das konnte man
riechen. Das Ritual umfaßte eine Zigarettenspitze mit Filter,
einen Aschenbecher, möglichst mit Deckel, und darin ein Aluminiumröhrl
als Gluttöter. Zur intellektuellen Kurzsichtigkeit hatte sie
allerdings keine eigentliche Veranlagung. Die erste Brille erwarb
sie in ihrem 30. Lebensjahr, als sie bei ihrem Dolomitenurlaub die
Gemsen nicht sah, von denen die andern sprachen. In späteren
Jahren hatte sie noch ein weiteres, einschneidendes Erlebnis mit ihren
Augen: der ständig graue Himmel über Kronberg und dem Rest
der Welt wurde nach einer Staroperation wieder blau, wenigstens wenn
die Sonne schien.
Ihre Vitalität war bewundernswert, obwohl sie seit den fünfziger
Jahren mehrere sehr schwere Operationen hatte über sich ergehen
lassen müssen. Vor einem Jahr war sie das letzte Mal in Amerika
und nahm an dem von Santillana ins Leben gerufenen Kolloquium zur
Wissenschaftsgeschichte teil. Und bis kurz vor ihrem Tod fuhr sie
mindestens einmal pro Woche von Kronberg, wo sie wohnte, nach Frankfurt.
Nun ist der Vulkan erloschen, nachdem er fruchtbare Spuren im umliegenden
Land hinterlassen hat.
Uta Lindgren, Bayreuth